Wieder einmal bin ich am Vortag weiter gekommen als ursprünglich geplant war und somit dem neuen Tagesziel schon recht nah. Der zweite Munro steht auf dem Plan, jetzt aber ein fast wegloser. In der Küche des Campingplatzes gibt es diverse Aushänge und Flyer zum Beinn Dorain, über die Schwierigkeit sind sich aber alle einig. Auch der Platzwart berichtet von einem nicht ungefährlichen Aufstieg bei nassen Bedingungen. Die Stürme vor drei Wochen, jetzt viel Regen in den letzten Tagen, dazu noch eine Wettervorhersage, die für den morgigen Tag des geplanten Aufstiegs Sturm und Regen ankündigt. Im Gipfelbereich gibt es zudem keinen Weg mehr, sobald man neben dem Bach/Wasserfall aufgestiegen ist, muss man sich im Nebel grob rechts halten. Suuuuper. Schweren Herzens kippe ich also den Plan und verlängere die heutige Etappe bis zur Wildcampingfläche des Inveroran Hotels. Nach einer Frühstückspause in Tyndrum folgt die langweiligste Stelle des kompletten Weges – knapp 10-12km nach Bridge of Orchy – immer über Kieswege am Fusse des Beinn Dorain – entsprechend schnell komme ich auch vorwärts. Beim Aufstieg zum letzten Hügel treffe ich dann den Kampfsportler wieder, der sich wie üblich verquatscht hatte und noch viele Kilometer für heute vor der Brust hat. Von oben bietet sich etwas abseits des Weges die überhaupt schönste Aussicht des WHW! Die kleinen Hinweise im Reiseführer sind manchmal Gold wert. Am Campingplatz trennen sich unsere Wege zum letzten Mal. Wir sollten uns nicht mehr wiedersehen. Es ist mittlerweile 16 Uhr und das Kingshouse Hotel ist noch knapp 16km entfernt. Am Kingshouse Hotel soll zudem meine nächste Besteigung starten, die ich aber gern etwas ausgeruhter und nicht mit über 35km in den Beinen begehen möchte.
An dieser laut Karte letzten und einzigen Übernachtungsmöglichkeit in der Gegend überhaupt (Rannoch Moor sagt alles) ist dementsprechend viel los und es stehen bereits einige Zelte in immer stärker werdenden Wind. Nach einigen Plaudereien und Abendessen gehe ich unbegleitet und unabsichtlich allein ein paar Hundert Meter zum Hotel und dem Hikers Pub zurück. Ein Pint Guinness, ein Pint Cider und einem Whisky später wanke ich zurück zum Zelt und falle sofort in tiefen Schlaf. Die im Pub ausliegende Wettervorhersage hat von “blustery rain” berichtet. Keiner konnte genau sagen, was das Wort bedeutet, aber man kann es mit vierstündigem waagerechten Platzregen bei sehr starkem Wind beschreiben. Mittlerweile verstehe ich auch mehr von der Bevölkerung des Weges. Die Mehrheit steht sehr früh auf und kommt auch schon sehr früh am Ziel an. Durch meine verschobenen und wild gelegten Startpunkte bin ich vielen Wanderern nicht oder nur kaum begegnet, obwohl wir uns tagelang auf engem Raum befunden haben.
Nachts zieht dann heftiger Wind auf und biegt das Zelt in alle verschiedenen Richtungen, zwischendurch hängt mir immer wieder die Innenhaut im Gesicht und auf den Beinen. Ich zelte direkt neben einer Mauer und konnte nur sehr unzureichend abspannen, dafür aber vergleichsweise Windschatten geniessen. Um kurz nach 6 ist die Nacht dann auch schon zuende, die ersten Stimmen von vorbeiziehenden Wanderern sind zu hören. Um kurz nach 6! Zwei, mit denen ich im Pub gesprochen hatte, wollten direkt nach Kinlochleven weiterlaufen und hatten somit über 35 Kilometer vor sich. Bei dem Wetter und dem Devils Staircase vorraus!
Als der Regen mal kurz etwas nachlässt, packe ich meine Sachen und wage mich zurück auf den Weg.
Ich treffe einen Neuseeländer, der wandernd um die Welt reist und Wanderweg um Wanderweg in Rekordtempo und nur mit Joggingschuhen, dafür aber schwerem Rucksack absolviert. Sein Tempo kommt mir gerade recht und wir fliegen mit knapp 5km in der Stunde dahin. Die Strasse ist schrecklich. Gefühlt immer ansteigend, dem Wind völlig ausgesetzt und unregelmässig mit großen Steinen belegt. Andauernd quasi Seen auf dem Weg, zwischen ihnen Rinnsale und Bäche. Bis jetzt haben meine Schuhe allem Regen getrotzt, plötzlich aber kommt der Komplettwassereinbruch. Wind, Regen, Sturm, Kälte. Beissen. Immer weiter. Fragt mich nicht, wie es im Rannoch Moor aussieht. Ich habe keine Ahnung. Die Augen fokussiert nach vorn gerichtet, seitlich ist sowieso nur Nebel zu sehen, das Hotel ist das Mantra und die Hoffnung! Nur noch ankommen! Irgendwann muss ich den Neuseeländer ziehen lassen und allein weiter gehen. Das Wetter wird kurz vor dem Hotel leicht besser. Trotzdem bin ich nass bis auf die Haut. Keins der wasserdichten Teile konnte völligen Schutz gewähren. Besonders negativ sind mir meine Gaitors (so Teile, die um Knöchel und Unterschenkel kommen) aufgefallen, die ich als Mitverursacher der Wasserladungen in meinem Schuh verdächtige. Psychisch ist diese Etappe ungeheuer anspruchsvoll, der Weg ist fast schnurgerade und wenig abwechslungsreich. Es gibt unterwegs auch kaum Bezugs- oder Orientierungspunkte, irgendwann mal eine Brücke knapp bei der Hälfte, sonst zuckelt man mit der Hoffnung auf baldiges Ankommen dahin.
Kurz vor dem Hotel? Das erste sichtbare Haus war nicht das Hotel und als es dann tatsächlich zu sehen ist, zieht sich der Weg noch ewig. Hier campen? Unmöglich! Mehr Tümpel als Wiese. Und selbst wenn, es ist gerade mal erst 12 Uhr und die Aussicht auf 20 Stunden im Zelt bei Sturm und Regen ist nicht sehr verlockend. Peinlich berührt durch das laute Schmatzen meiner Schuhe stapfe ich in das Hotel und bestelle ein Zimmer. Komplett ausgebucht! Auf mehrfache Nachfrage kommt dann ein Hinweis auf einen Bus, der nach Glen Coe Village fährt und in wenigen Minuten abfahren würde. Ich überlege meine Alternativen. Devils Staircase versuchen? Die schwierigste bzw. gefährlichste Passage bei schlechtmöglichstem Wetter mit völlig durchnässten Klamotten und Schuhen und schön vielen Kilometern in den Beinen? Es ist zwar gerade trocken, aber das muss ja nicht so bleiben.

Ich nehme schlussendlich den Bus und erreiche nach langer, entnervender Suche und erneuten fast 5km ein Hostel. Dusche, ein Bett, Trockenraum. Den restlichen Tag verbringe ich lesend, quatschend und chillend auf der Couch. Die Leute hier haben einen komplett anderen Hintergrund und sind Radsportler oder einfach nur Umherreisende mit neuen, anderen Geschichten. Irgendwann kommt ein Taxi und spült 4 Männer ins Hostel, die ebenfalls den WHW gehen und auch am Kingshouse Hotel gestrandet sind. Damit ist meine Entscheidung über den weiteren Verlauf gefallen. Keine Busweiterfahrt um eine Etappe zu überspringen oder eine Wanderung durch das Glen Coe, sondern eine gemeinsame Taxifahrt am nächsten Morgen zurück  zum Hotel, um den Weg auch lückenlos gehen zu können. Am Ziel habe ich mit vielen Wanderern gesprochen, die an diesem Tag gescheitert sind, die Wanderung abgebrochen haben oder ein, zwei Etappen mit dem Bus gefahren sind. Ich bin froh, dass mir das nicht passiert ist, der Weg wäre nicht komplett gewesen! Ich hatte aber ja auch noch genug Puffer und keinen drängelnden Rückflug vor Augen, der meine Zeitplanung beeinflusst – zu dem Zeitpunkt eine weise Entscheidung.